CLEMENS JAHN
Die Möglichkeit, an der HfG Karlsruhe Produktdesign in Kombination mit Szenografie zu studieren, ist im Vergleich zu anderen Hochschulen eine Besonderheit. Dabei liegt es eigentlich nahe, eine Praxis, die sich vornehmlich mit dem Nutzen der Dinge befasst, mit einer Praxis zu verbinden, die sich vornehmlich mit der Inszenierung der Dinge im Raum auseinandersetzt. Wo genau liegen die Chancen und Stärken dieser Kombination und wo liegen die feinen Unterschiede zwischen Produktdesign und Szenografie? Welche Rolle spielt dabei der Kontext? Welche Rolle spielt der Faktor Zeit?
ANJA DORN
Ich finde die Formulierungen „Nutzen“ und „Inszenierung“ in der Fragestellung schwierig. Szenografie wird so auf den Begriff der Inszenierung heruntergebrochen. An manchen Hochschulen wird der Szenografiebegriff tatsächlich an der Inszenierung festgemacht, beispielsweise bei Ralf Bohn und Rainer Wilharm an der Fachhochschule Dortmund. Aber Inszenierung ist ja im Grunde alles: Jedes Schaufenster ist inszeniert, jede politische Veranstaltung und jedes private Abendessen. Ich glaube aber, dass der Szenografiebegriff, wie er für uns an der HfG-Karlsruhe prägend ist, historischer gefasst ist.
Zurzeit wird in der Philosophie zunehmend die Trennung zwischen Subjekt und Objekt infrage gestellt, beispielsweise durch den französischen Philosophen Bruno Latour oder durch die Vertreter des „spekulativen Realismus“. Geht man nicht mehr von der Trennung zwischen Subjekt und Objekt aus, sondern davon, dass man in einem Netzwerk mit Objekten lebt, die das eigene Verhalten beeinflussen, haben die Objekte eine eigene Handlungsmacht. Bruno Latour macht das sehr schön am Beispiel von Straßenschwellen deutlich. Diese heißen auf Französisch gendarme couché. Der Gendarm liegt sozusagen auf der Straße, man versteht schon am Begriff, dass er eine subjektive Handlungsmacht besitzt. Es gibt ein Kollektiv von Aktanten, das in diesem Fall aus dem Autofahrer und dem Auto besteht. Durch den dritten Aktanten, den gendarme couché, wird man gebremst. Wenn man so über Subjekt-Objekt-Gefüge nachdenkt, ändert sich die Art und Weise, wie man mit ihnen umgeht und wie man sie gestaltet. Der Künstler Franz Erhard Walther entwarf bereits in seinem 1. Werksatz, der im Laufe der 1960er Jahre entstanden ist, Objekte aus Stoff, die erst in dem Moment, indem man sie benutzte, zu Kunstwerken wurden. So kann man beispielsweise ein mit grauem Nesselstoff bezogenes quaderförmiges Kissen betreten oder eine lange, doppelte Stoffbahn über die Köpfe zweier Personen stülpen, die diese dann zwischen sich in Spannung bringen und so nicht nur an der Reflexion dessen, was Skulptur ist, sondern auch an der Konstitution derselben teilhaben. Erst in dem Moment, in dem das Objekt gehandhabt wird, ist das Kunstwerk da. Das heißt, die RezipientInnen sind Teil des Objekts.
„Inszenierung ist ja im Grunde alles: Jedes Schaufenster ist inszeniert, jede politische Veranstaltung und jedes private Abendessen.“ – Anja Dorn
Historisch gesehen beruht die Idee und Gestaltung von Museen aber auf der Trennung von Objekt und Subjekt. Wenn man diese Konstellation anders denken kann, nämlich als Handlungsgefüge, stellt sich die Frage, was das für Konsequenzen für das Museum, seine Gestaltung und die möglichen Rezeptionsgefüge hat. Das finde ich interessant. Es ist ja nicht unbedingt etwas damit gewonnen, dass man Teil eines Objekts wird. Das kann genauso gut bedeuten, dass das Objekt Macht über einen hat, dass die Distanz zum Objekt verloren geht, die für die Reflexion desselben notwendig ist. Die ästhetische Erfahrung eines Objekts kann man als die unkontrollierbare Öffnung von Bedeutungsperspektiven auf dasselbe beschreiben, die mit der Verunsicherung des Betrachtenden gegenüber dem ihm fremd erscheinenden Objekt einhergeht. Sind solche Erfahrungen auch innerhalb eines Netzwerks aus Aktanten möglich? Was sind die Voraussetzungen für solche ästhetischen
Erfahrungen? Und das, würde ich sagen, ist etwas, was nicht nur mich, sondern auch BLESS interessiert. Wenn man ein Objekt entwickelt, geht es ja nicht primär um eine spätmodernistische Idee von Funktionalität – zum Beispiel eure Pelzperücke: man braucht ja keine Pelzperücke …
BLESS
Eine Pelzperücke wird sich „gegönnt“, falls eine wärmende Eigenschaft mit irritationsgebendem Look von Interesse ist oder der Frisör montags geschlossen hat.
Das Verbindende ist sicherlich unser Interesse an Wirkungen: im Schaffungsprozess von Produkten und in der Szenografie erkunden wir, was und wie ein Objekt Dynamik erzeugt, und loten aus, in welchem Kontext es angewandt wird. In unserem Fall – für BLESS – ist außerdem zu betonen, dass unsere Arbeit eigentlich immer auf persönliche Bedürfnisse aufbaut. Wir haben dadurch einen Sofort-Indikator dafür, ob wir etwas brauchen oder nicht, und wägen ab, ob der Kontext es braucht, für den es angefragt wurde. Das muss nicht zwingend unser eigenes Leben sein, es kann ebenso jemand Drittes sein, der uns konsultiert und um etwas bittet. Diese Parameter muss ein zu erschaffendes Produkt in unserem Kontext erfüllen, sonst haben wir das Gefühl, nur etwas hinzuzufügen, was niemand braucht.
Der zweite Indikator ist, dass das Produkt oder die Situation, die man erschafft, den Erfahrungshorizont erweitert. Denn man möchte eben nicht nur ein Produkt, sondern auch eine Erfahrung schaffen. Diese kann auch ungegenständlich sein. Es geht um etwas, das in irgendeiner Form etwas Neues anzubieten hat. Wir vergleichen die erstrebte Situation oft mit der eines Kindes, das zum ersten Mal Schnee sieht: Eine neue Situation entbehrt die Erfahrung und es geht somit nicht vorrangig um Bewertung, sondern vielmehr um das Erleben, um das Hier und Jetzt.
„Man möchte eben nicht nur ein Produkt, sondern auch eine Erfahrung schaffen. Diese kann auch ungegenständlich sein. Es geht um etwas, das in irgendeiner Form etwas Neues anzubieten hat.“ – BLESS
Was für Anja eher einschränkend klingt, nämlich die Inszenierung, ist das, was wir in Verbindung mit unserer Arbeit als besonders wichtig empfinden, beziehungsweise als untrennbar mit einem Objekt in Verbindung stehend. Die Pelzperücke war unsere erste gemeinsame Arbeit, 1996, unter dem Namen BLESS. Die Funktion einer Kopfbedeckung wird durch die Materialwahl nicht unbedingt erweitert – sie ist eine Kopfbedeckung, die auch wärmt – aber sie verströmt nach außen hin eine bestimmte Ästhetik, markiert einen Stil. Das ist ein wichtiger Aspekt unserer Arbeit: dass wir die ganz gewöhnliche Nutzung mit einem für uns neuen Ausdruck verbinden. Die BeobachterInnen – das Publikum – merken, dass es gestreifte Haare sind, was bei Menschenhaar eigentlich nicht vorkommen kann, auch nicht durch extensive Sitzungen beim Frisör. Man kann den Menschen, wenn sie diesem Objekt gegenüberstehen, an den Augen oder dem Gesicht ablesen, dass sie verzweifelt versuchen, sich an einem Aspekt anzudocken oder auszumachen, worin die Wunderlichkeit sich jetzt begründen könnte. Diese provozierte Auseinandersetzung gefällt uns, motiviert uns.
Was die Inszenierung unserer Pelzperücke angeht, können wir berichten, dass diese, wenn sie im Skigebiet als Pelz-Kopfbedeckung eingesetzt wird, weniger irritiert als bei ihrem Auftauchen 1997 in einem Modekontext, bei einer Präsentation in Paris oder in einer Anzeige in einem Magazin, so wie wir damals unsere Arbeit präsentiert haben. Relevant ist also immer auch die Frage der Platzierung und der Zeitlichkeit und darüber hinaus die Auseinandersetzung mit dem Raum, der Umgebung, der Art des Publikums und gesellschaftlichen Aspekten.
„Relevant ist also immer auch die Frage der Platzierung und der Zeitlichkeit und darüber hinaus die Auseinandersetzung mit dem Raum, der Umgebung, der Art des Publikums und gesellschaftlichen Aspekten.“ – BLESS
AD
Was dann natürlich eine Frage der Szenografie ist. Das Interessante an euren Objekten ist, dass sie eben nicht nur für den Gebrauch da sind, sondern dass sie auch ästhetische Erfahrungen ermöglichen können. Du hast gerade gesagt, die ästhetischen Erfahrungen sind nur in bestimmten Situationen möglich und nicht unbedingt auf der Skipiste …
BLESS
Beim Anstehen am Skilift würde man wohl eher sagen: „Oh, das ist bestimmt schön warm!“ Aber man würde wohl nicht sagen: „Was ist das bitte für ein 80er-Jahre Haarschnitt? Moment, ist das David Bowie?“
AD
Das ist der Punkt. Das ist eine Frage für die Szenografie und das Ausstellungsdesign: Was sind die Rahmen, in denen man sich auf eine ästhetische Erfahrung einlässt? Wann kann ein Produkt eine solche ästhetische Erfahrung erzeugen wie ein Theaterstück oder wie Malerei?
BLESS
Wenn du dir eine Theaterkarte kaufst, bist du darauf vorbereitet, an einem Abend eine bestimmte Erfahrung zu machen. Was uns aber am Produktdesign gefällt, ist die Möglichkeit, unsere Auseinandersetzungen im Alltag zu platzieren, um anderen Leuten die Möglichkeit zu geben, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, die uns beschäftigen. In der Lehre wollen wir nicht nur dazu auffordern, noch einen weiteren Stuhl, einen weiteren Tisch oder eine weitere Lampe zu entwickeln oder sich Gedanken zu machen, ob es eventuell ein Material gibt, das noch nie für einen Stuhl verwendet wurde. Uns interessieren vor allem Prozesse, auch im Hinblick auf Aspekte wie Gesundheit oder gesellschaftliche Restrukturierung: Wie lebt man? Was teilt einen Alltagsrhythmus ein? Welche Möglichkeiten gibt es, Dinge infrage zu stellen?
„Was uns am Produktdesign gefällt, ist die Möglichkeit, unsere Auseinandersetzungen im Alltag zu platzieren, um anderen Leuten die Möglichkeit zu geben, sich mit den Themen auseinanderzusetzen, die uns beschäftigen.“ – BLESS
Es gibt noch einen weiteren Punkt zwischen Produktdesign und Szenografie, zwischen dem Moment des Erschaffens und der realen Anwendung eines Produkts: den Moment des Verkaufens. Dabei kommt das Ausstellungsdesign ganz stark ins Spiel und es ist gar nicht so einfach, beim Erschaffen eines Produkts diesen Aspekt zu berücksichtigen. Früher war das Ziel erreicht, wenn man als ProduktdesignerIn sein Arbeitsergebnis in einem bestimmten Store platzieren konnte. Heute haben sich die Vertriebsmöglichkeiten wesentlich erweitert. Das Internet bietet vielfältige „Schaufenstermöglichkeiten“. Uns interessiert also auch, wie ein Mensch zu einem Produkt gelangt; Vermarktungsmechanismen als Fragestellungen wie zum Beispiel: Können Dinge ausgeliehen werden? Wird etwas verschenkt? Hat Preisgestaltung vielleicht gar nichts damit zu tun, wie teuer etwas in der Herstellung sein muss? In welcher Gesellschaftsschicht kann ein Produkt landen? Da wird es dann eigentlich spannend und auch wichtig, sich sowohl mit Inszenierung, Ausstellungsdesign und Szenografie auseinanderzusetzen.
AD
Ich glaube auch, dass das der Punkt der Verbindung ist. Schließlich geht es in der Gestaltung eben nicht darum, Denken in Form umzusetzen – die Trennung von Denken und Form ist uns GestalterInnen völlig fremd. Schließlich findet Denken auch in der Theorie in einer Form statt, nämlich in der Sprache. Das Konzept einer Ausstellung realisiert sich nicht auf dem Papier oder im Kopf des Kurators, aber auch nicht in der Auswahl der auszustellenden Objekte, sondern im Prozess des Bauens und der Kommunikation mit allen Beteiligten. Welche Materialien verwende ich? In welche Situation versetze ich den Betrachter? Arbeite ich szenografisch oder mit einem Ausstellungsdesign? Wie verändern diese Interaktionen die Entscheidungen?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstand man Theater mehr und mehr als „Raumkunst“. Damals bekamen die Bühnenbilder auf einmal ihr eigenes Leben. Sie mussten nicht mehr der Illustration einer dramatischen Vorlage dienen, sondern brachten eine eigene Narration in die Inszenierung mit ein. Das begann mit Edward Gordon Craig und Adolphe Appia. Craig konzipierte 1908 ein Bühnenstück, das nur noch aus sich bewegenden geometrischen Formen und Licht bestand. Diese Entwicklung gab es in der Ausstellungsgestaltung auch. Die zentrale Aussage von Moholy-Nagys Entwurf für den Raum der Gegenwart im Provinzialmuseum in Hannover von 1930 lag im Display und nicht in den ausgestellten Objekten. Dort sollten nur Reproduktionen von Kunstwerken und nicht die Kunstwerke selbst gezeigt werden. Die „Gegenwart“ vermittelte sich durch die modernen Materialien des Displays und die Medialität der diversen Lichtprojektionen. Das, würde ich sagen, ist Szenografie.
CJ
Inwiefern unterscheidet sich eine solche ganzheitliche Arbeitsweise von der gängigen abstrakten und austauschbaren White-Cube-Situation?
AD
Ein White Cube gibt vor, er sei neutral. Aber er ist natürlich nicht neutral, sondern inszeniert ein Kunstwerk als auratisch, das heißt, es ist ein ideologischer Raum. Der White Cube ist allerdings unser Konsens. Wir haben ihn als Format entwickelt und benutzen ihn, weil wir es so gewohnt sind. Dennoch drängt sich die Ausstellungsarchitektur gerade deshalb nicht in den Vordergrund, der Fokus der Ausstellung liegt auf den Objekten.
BLESS
Wir finden es sehr spannend, dass die Durchdrungenheit von Inszenierung heute bereits so weit vorgeschritten ist, dass man sich ihr gar nicht mehr entziehen kann. Sie ist eine Art natürliche Form des Erfahrungszuwachses, die heutzutage jedem Kind widerfährt.
Beim Produktdesign hat sich die Inszenierung schon längst vom Produkt entfernt. Das ist auch das, was man im Design eigentlich als Chance begreifen sollte: sur-mesure unser Berufsfeld zu definieren, alles Mögliche zu machen und zu erschaffen. Das kann egal was sein, das kann die Pizza sein, die Situation, die Luft zum Atmen in der Dosierung und im flavor oder was auch immer. Wir erachten es als Teil unserer Lehre, zu vermitteln, dass man die Realität, die einen umgibt, in jegliche Richtung – nach oben, nach unten – kompensieren, erweitern, verstärken, mit Fiktion anreichern, also egal wie selbst gestalten kann und jede Person das selbst in der Hand hat.
„Die Wirklichkeit kann man bereits verändern, indem man bestimmte Sätze sagt. Wenn ein Standesbeamter sagt: ‚Ich erkläre euch zu Mann und Frau‘, hat man ein Wort gesprochen und dieses gesprochene Wort hat die Wirklichkeit verändert. Das ist es, was Performativität meint.“ – Anja Dorn
AD
Die Wirklichkeit kann man bereits verändern, indem man bestimmte Sätze sagt. Wenn ein Standesbeamter sagt: „Ich erkläre euch zu Mann und Frau“, hat man ein Wort gesprochen und dieses gesprochene Wort hat die Wirklichkeit verändert. Das ist es, was Performativität meint. Der Philosoph John Langshaw Austin hat das formuliert. Auch Marx spricht bereits von der Performativität von Objekten, indem er feststellt, dass das Begehren nach dem Fetisch bestimmte Handlungsweisen hervorruft. Die entscheidende Frage ist, wie man mit dieser Performativität umgeht. Bei euren Produkten seid ihr sehr darum bemüht, Handlungsformen zu ermöglichen, die erst mal nicht selbstverständlich erscheinen. Das ist auch eine Kritik an einem unreflektierten Gebrauch von Objekten.
BLESS
Das ist auf jeden Fall das, was wir an unserem Beruf sehr mögen, auch wenn wir an dieser Stelle betonen möchten, dass wir uns als Vertreterinnen einer namenlosen Profession wahrnehmen und versuchen, uns nicht von den Betitelungen unserer Arbeit limitieren zu lassen. Wir fühlen uns nicht wie Produktdesignerinnen, Modedesignerinnen oder auf etwas Handwerkliches beschränkt. Wir machen auch keine Konzeptkunst. Wir machen das, was wir für wichtig und richtig halten. In diesem Moment. Das Ausgabemedium hat meist objekthaften Charakter. Wir wollen, dass man es anfassen kann, denn der haptische Aspekt löst noch mal etwas anderes aus, als wenn man nur eine Abbildung von einem Objekt sieht oder nur darüber redet oder liest. Das finden wir herrlich pragmatisch, denn man muss es auf den Punkt bringen. Entscheidungen wollen getroffen werden.
AD
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen KuratorInnen und ProduktgestalterInnen ist, dass von vornherein klar ist, dass sie an der kapitalistischen Warenproduktion und der Produktion von Machtverhältnissen beteiligt sind. Wenn man diese Berufe wählt, macht man sich in jedem Fall die Finger schmutzig. Man kommt nie davon los, dass man Fetische produziert, dass man im Ausstellungskontext Machtverhältnisse produziert oder marktverstärkende Funktionen erfüllt. Man kann das nie ganz ablegen, sondern muss immer wieder unangenehme Entscheidungen treffen, sich zu dieser Problematik verhalten.
CJ
Wenn man für einen Großkonzern arbeitet und beispielsweise Autos designt, die millionenfach vom Fließband rollen, produziert man vielleicht eine Art kollektive Realität mit. Wenn die Projekte aber ein wenig kleiner dimensioniert sind, sind die Auswirkungen und Effekte doch deutlich geringer.
BLESS
In einem solchen Fall werden die Entscheidungen meistens nicht von den DesignerInnen getroffen. Sie sind an diesem Punkt eher ausführende GehilfInnen, was sich eventuell auch angenehm anfühlen mag. Um jetzt beim Beispiel des Autos zu bleiben, ist die erste Instanz natürlich der Wirtschaftsfaktor. Das Design steht dort sicherlich nicht an erster Stelle. Man muss einerseits klar sehen, inwieweit man als DesignerIn in so einem Fall überhaupt einen Einfluss hat. Andererseits finden wir es sehr spannend zu beobachten, wie zum Beispiel der Designer, der die ersten Macs mitentwickelt hat, es geschafft hat, die Ästhetik eines Produkts, das als Nischenprodukt gestartet ist, in den Bereich der Masse zu tragen – das sehr schlichte Design, welches damals schon sehr ungewöhnlich war, traf den Nerv der Zeit.
CJ
Das hat Apple interessanterweise auch im Bereich der grafischen Benutzeroberflächen geschafft.
„Wir glauben auch, dass fortschreitende technische Möglichkeiten im Produktdesign, wie der 3D-Druck, alles verändern werden. Es wird die Fertigungswege, den ganzen Designprozess demokratisieren, wenn man sich zum Beispiel seine Zahnbürste selbst ausdrucken kann.“ – BLESS
BLESS
Wir glauben auch, dass fortschreitende technische Möglichkeiten im Produktdesign, wie der 3D-Druck, alles verändern werden. Es wird die Fertigungswege, den ganzen Designprozess demokratisieren, wenn man sich zum Beispiel seine Zahnbürste selbst ausdrucken kann.
AD
Aber was heißt Demokratisierung? Demokratie erfüllt sich ja nicht nur im freien Zugang, sondern hat auch etwas mit Vermittlung und Diskussion zu tun. Es fragt sich, wo diese Reflexion dann stattfindet.
BLESS
Wir sagen nicht, dass das nur gut ist. Nicht jeder hat ein gutes Gefühl dafür, eine passende Zahnbürste zu entwerfen. Es bleibt ja auch die Frage, ob sich die Zahnbürste eignet, um gestalterisches Potenzial zur Schau zu stellen, denn wem kann ich schon meine Bürste zeigen, außer den Mitreisenden im Schullandheim. Prinzipiell aber ist es interessant, dass man heutzutage dank Habitat oder Ikea kein Cappellini-Sofa kaufen muss, um modern zu sein.
Nennenswerte Entwicklungen und Phänomene auf dem Kleidungssektor wären beispielsweise H&M und Zara, die noch schneller als die Designer selbst die Modelle in einem rasanten Rhythmus kopieren und „ready-to-buy“ für stets „ge-up-datete“ KonsumentInnen bereitstellen. Im Prinzip ist der Student oder die Studentin mit dem schmalen Geldbeutel dann schneller an der Ware als jemand, der das Geld hat, das Original zu kaufen, welches ab dem Tag der Veröffentlichung einen gewissermaßen aufwendigen Produktionsprozess durchlaufen muss.
Man hat heute im Grunde nur noch die Möglichkeit, sehr exklusiv für viel Geld etwas sehr besonderes und hochwertiges zu erwerben, oder man kauft es eben günstig und es ist ein Massenprodukt. Wir glauben aber, dass die zukünftigen Produktionswege uns wieder verstärkt erlauben werden, individuell und trotzdem günstig Dinge fertigen zu können. Je mehr KonsumentInnen zukünftig selbst in Designprozesse eingreifen können, desto weniger werden sie von der Massenfertigung abhängig sein.
CJ
Ihr hattet vorhin schon angemerkt, dass ihr Mitte der 1990er Jahre als BLESS angefangen habt. Wenn ihr auf diese Zeit zurückblickt, die auch die Anfangszeit der HfG war: Was hat sich seitdem verändert? Haben sich in den letzten 20 Jahren die Menschen geändert oder sind es lediglich die Oberflächen, die sich verändert haben?
BLESS
Die Menschen haben sich vielleicht gar nicht so sehr verändert, wie man es meinen würde. Hätte man damals die technischen Möglichkeiten vorhersehen können, wäre man womöglich davon ausgegangen, dass sie viel größere Auswirkungen haben würden. Wie geht dir das, Anja?
„Kritik spielt heute nicht mehr die gleiche Rolle im Kunstbetrieb, was sich nicht nur an geschrumpften Feuilletons zeigt, auch die schlechtere Bezahlung der KritikerInnen ist ein Zeichen der sinkenden gesellschaftlichen Wertschätzung.“ – Anja Dorn
AD
Ich unterhalte mich öfter mit FreundInnen darüber, wie angestrengt wir von unserem Leben in der neoliberalen Gesellschaft sind, insbesondere was die sogenannten „Flexibilisierung“ der Arbeitswelt betrifft, aber auch die sich rasant verändernden Formen von Kommunikation. Kritik spielt heute nicht mehr die gleiche Rolle im Kunstbetrieb, was sich nicht nur an geschrumpften Feuilletons zeigt, auch die schlechtere Bezahlung der KritikerInnen ist ein Zeichen der sinkenden gesellschaftlichen Wertschätzung. Ich finde, dass sich in dieser Hinsicht eine ganze Menge verändert hat.
BLESS
Aber hinsichtlich der Studierenden? Bei denen, die frisch vom Abitur kommen, finden wir es sehr überraschend, dass sich bei den heutigen Möglichkeiten, sich über die regionalen Grenzen hinaus zu informieren, offensichtlich wenig geändert hat. Uns überrascht, dass im Internetzeitalter das Denken immer noch sehr eng und familiär und schulisch ist. Wir können aber rückblickend sagen, dass wir froh sind, dass wir in unserer Zeit groß geworden sind. Es war alles deutlich überschaubarer.
AD
Es gab auch einen großen spielerischen Rahmen. Die Bedeutung, die man in den 1970er Jahren dem Spiel und den Freiräumen fern von Leistungsprinzipien beigemessen hat, war phänomenal. Als Kinder war uns dieser Luxus nicht bewusst.
BLESS
Wenn wir uns an die Gründungsphase von BLESS zurückerinnern, die Zeit, in der wir Freundschaft geschlossen haben, dann war unser Thema hautsächlich die Überforderung, mit dem Studium fertig zu sein, und wir fragten uns: „Wie soll das jetzt weitergehen? Was soll nur aus uns werden?“ Aber die Möglichkeit, sich damals von den Orientierungslosen abzuheben, indem wir schlichtweg „etwas machten“, erscheint uns aus heutiger Sicht kinderleicht. Heutzutage hingegen erscheinen selbst risikofreudige Selbstdarstellungsversuche durch die Multiplikationsmöglichkeiten des Internets als nichtssagend – und das ist natürlich prekär. Jeder kann aus dem Kinderzimmer heraus sein Ding machen und in die Welt hinausposten, ohne sich langwierigen Prozessen wie Aufnahmeprüfungen oder anderen Instanzen zu unterziehen, die beurteilen würden, ob etwas gut oder schlecht ist. Das schien zu unserer Zeit unmöglich.
„Heutzutage erscheinen selbst risikofreudige Selbstdarstellungsversuche durch die Multiplikationsmöglichkeiten des Internets als nichtssagend – und das ist natürlich prekär. Jeder kann aus dem Kinderzimmer heraus sein Ding machen und in die Welt hinausposten, ohne sich langwierigen Prozessen wie Aufnahmeprüfungen oder anderen Instanzen zu unterziehen, die beurteilen würden, ob etwas gut oder schlecht ist.“ – BLESS
AD
Das ist auch im kuratorischen Bereich so. Als ich bei De Appel studiert habe, war das eines der ersten KuratorInnenprogramme in Europa. Der ganze Diskurs um das Kuratorische, der eigentlich schon in den 60er und 70er Jahren angezettelt worden war, gewann zu diesem Zeitpunkt erst an Fahrt. Natürlich wird heute oft gesagt, dass es mittlerweile nur noch um KuratorInnen und nicht mehr um KünstlerInnen geht. Es hat sich ein regelrechter KuratorInnen-Hass entwickelt. Andererseits ist es natürlich toll, dass es nun einen etablierten Diskurs gibt, an dem man teilnehmen kann; dass es etablierte Sehgewohnheiten gibt und immer mehr Leute wahrnehmen, was an einer Ausstellung problematisch ist.
BLESS
Wir dachten früher immer, KuratorIn kann man nur ab einem bestimmten Alter werden und der Titel würde verliehen. Wir dachten uns: „Wow, KuratorIn.“
AD
Heute sind natürlich alle KuratorInnen. Das Bauhaus wird auch kuratiert – der Heimwerkermarkt, nicht die Schule.
„Heute sind natürlich alle KuratorInnen. Das Bauhaus wird auch kuratiert – der Heimwerkermarkt, nicht die Schule.“ – Anja Dorn
BLESS
Es hat sich viel verändert, aber der Blick nach vorne bleibt. Wir profitieren unheimlich von diesen dazugewonnenen Möglichkeiten und von der Schnelligkeit. Dadurch, dass wir in zwei verschiedenen Städten stationiert sind, in Berlin und Paris, kennen wir die damaligen Beschwerlichkeiten Mitte der 1990er Jahre noch sehr gut. Eine europäische, also nicht in einem, sondern in mehreren Ländern ansässige Firma zu gründen, ist übrigens bis heute noch schwierig und konnte bislang in unserem Fall nur mit einem GmbH-und-Tochter-GmbH-Konstrukt improvisiert werden.
Die Funktionalität der Struktur, die wir erschaffen haben, um unsere Ideen und Meinungen in Taten umzusetzen und diese dann für interessierte Personenkreise zur Verfügung zu stellen, ist unser Hauptbeschäftigungsfeld und dieser Ansatz spielt in der Art, wie wir unterrichten, ebenso eine Rolle. Dies bezieht sowohl die Frage nach Produktionsmöglichkeiten ein als auch die des Vertriebes. Unsere ProduzentInnen sind teilweise auch unsere KundInnen, unsere KundInnen sind auch unsere FreundInnen, KollaborationspartnerInnen werden MitarbeiterInnen usw.
AD
Ihr meint, dass es euch bei der Gestaltung von Produkten auch um Produktionswege geht? Und dass mit jedem Produkt, das ihr herstellt, auch bestimmte Formen der Zusammenarbeit generiert werden? Das ist im Ausstellungskontext auch ein Punkt.
BLESS
Wir würden sogar so weit gehen zu sagen, dass es manche Produkte nur gibt, weil sich bestimmte Produktionsmöglichkeiten auftaten, weil sich ein Netzwerk herausgebildet hat oder schlichtweg, weil es von Seiten der ProduzentInnen ein Bedürfnis gab.
„Die Gestaltung von Zusammenarbeit ist ungemein wichtig. Dabei geht es nicht nur um Respekt gegenüber den MitarbeiterInnen, sondern auch darum, dass man für die Art der Arbeitsverhältnisse und die Form der Vermittlung Verantwortung trägt.“ – Anja Dorn
AD
An der Berliner Volksbühne fühlt sich zurzeit ein alter hierarchisch organisierter Apparat, für den Frank Castorf als Intendant neben seinem progressiven Programm eben auch steht, durch die Berufung des neuen Intendanten Chris Dercon angegriffen, der zuletzt an der Tate Modern eine neoliberale Institutionspolitik vertreten hat. Das sind zwei knallharte institutionelle Systeme, die da aufeinanderprallen. Für viele junge TheatermacherInnen stellt sich aber die Frage, unter welchen Bedingungen man überhaupt miteinander zusammenarbeiten will. Wie weit muss man den Theaterapparat in diesen institutionellen Formen akzeptieren, wenn man Theater machen will? Kann man das auch anders machen? Das gleiche betrifft natürlich auch den Kunstbetrieb, der reihenweise prekäre Arbeitsverhältnisse produziert. Die Gestaltung von Zusammenarbeit ist ungemein wichtig. Dabei geht es nicht nur um Respekt gegenüber den MitarbeiterInnen, sondern auch darum, dass man für die Art der Arbeitsverhältnisse und die Form der Vermittlung Verantwortung trägt.
CJ
Das heißt, dass ich, egal ob ich ein Design-Studio gründe, ein Produkt gestalte oder eine Publikation mache, die soziale und ökologische Verträglichkeit – bei Bruno Latour heißt das „politische Ökologie“ – mitdenken muss.
AD
Ja genau. Müssen wir das Holz dieser Publikation opfern, ist es das wert?
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