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Mit Moritz Appich, Mustafa Emin Büyükcoşkun, Cécile Kobel, Judith Milz, Rayna Teneva
20.10 – 18.11.2022
Vernissage: Donnerstag, 20.10.22, 18:30 Uhr

1956 wurde das erste Kernforschungszentrum (KfK) in Deutschland nördlich von Karlsruhe inmitten eines weitläufigen Waldes errichtet. Über 5000 Menschen arbeiteten im KfK, einer abgeschotteten und umzäunten Einrichtung. Über 50 Jahre dokumentierten professionelle Fotografen die Vorgänge vor Ort, die sich zu einem Bildkonglomerat von 210 000 Fotografien und Filmen addierten. Sie zeigen das, was erwartbar scheint: Brennstäbe, Abklingbecken, Abfallfässer, Architektur und Maschinen, die so groß sind, dass ein Mensch daneben kaum als solcher zu erkennen ist. Man findet aber auch Vertrautes, durch das man sich – im Kontext der Atomforschung – auf eine unheimliche Reise begibt: Bilder von sozialen Interaktionen, Atomeuphorie, Tanzveranstaltungen, Buffets, Tiere, Sportfeste.

Der visuelle Reichtum und die Vielfalt der Themen, die sich im Laufe der Jahre im Forschungszentrums angesammelt haben, bilden einen facettenreichen Archivbestand. Wissenschaft, Fortschritt und alltägliche Ereignisse und Unfälle: es sind Bilder, die Teil des historischen Kontextes des Wiederaufbaus von Nachkriegsdeutschland sind, durchdrungen von einem unzweifelhaften Glauben an die Zukunft, angetrieben und begleitet von einer nuklearen Euphorie.

In den späten 70ern markiert die wachsende Bedeutung der Umweltbewegungen den Beginn eines ideologischen Wandels im Land. Eine Entwicklung, die schließlich zur Abkehr Deutschlands von der Kernenergieerzeugung und zur vollständigen Abschaltung und Dekontaminierung der Reaktoren führte. In diesem Zusammenhang löste sich das Kernforschungszentrum als Struktur praktisch auf und seine Einrichtungen gingen im Karlsruher Institut für Technologie (KIT) auf. Auch sein Bildarchiv.

Es scheint jedoch so, als ob just dieser Paradigmenwechsel die „Öffnung“ des Archivs ermöglicht hat. 2017 wurde die Entscheidung getroffen, zehn Prozent des Bildarchivs zu digitalisieren. Dadurch wurde, in dem veränderten politischen Klima, ein kritischer Diskurs ermöglicht – nicht nur über die deutsche Anti-Atom-Position, sondern auch über atomare Nachbarschaften und das weltweite Geflecht nuklearer Bedrohungen. Seitdem das Archiv öffentlich zugänglich ist, ist es zum Ausgangspunkt zahlreicher künstlerischer Untersuchungen, Ausstellungen und Publikationen geworden, die das Nachleben der Atomforschung beschreiben und visualisieren wollen.

Im Rahmen der Ausstellung „Eternal Flame – The Radiating Archive“ wird das Archiverbe als ein Kosmos verstanden, in dem sich Künstler*innen mit seinem visuellen Regime auseinandersetzen. Sie sind vereint in dem Versuch, die Bildpolitik im Kontext des Kalten Krieges, der Nachkriegszeit in Westdeutschland und darüber hinaus zu deuten, zu übersetzen und zu verstehen. Die künstlerischen Ansätze stellen unterschiedliche Methoden im Umgang mit den Archivalien sowie ein breites Spektrum an Fragen zum dokumentarischen Charakter des Archivs nebeneinander – von der Spekulation mit Fiktion zukünftige Fakten schaffen zu können, bis hin zur Anerkennung einer kontaminierten Realität und existenziellen Betroffenheit, in der wir bereits leben.

In dieser Hinsicht war der Prozess der Digitalisierung ein Teil des „Auftauens“ der Bilder, ihrer Entkolonialisierung aus der analogen Vergangenheit – vom Zelluloid über digitale Technologie zurück zu anderen materiellen Formen. Das KIT-Archiv friert seine Sammlung derzeit physisch bei -18 Grad ein, um die Originalnegative vor dem Zerfall zu schützen. Die endgültige Entsorgung der materiellen Hinterlassenschaft des KfK – des radioaktiven Abfalls – bleibt ein fortlaufendes Unterfangen, bei dem viele wesentliche Faktoren noch ungeklärt sind. Im Gegensatz zu den archivierten Bildern lässt die endgültige Entsorgung der Rückstände aus der Kernforschung keine individuellen Lösungsansätze zu: Sie wird unweigerlich eine anspruchsvolle Aufgabe für künftige Generationen sein.

In der Ausstellung werden zwei Installationen zu sehen sein, Images from Past Future und Let me have my cake (and eat it too), die aus der Auseinandersetzung mit dem Archiv hervorgegangen sind, sowie die Publikation 10%. Das Bildarchiv eines Kernforschungszentrums betreffend, die asu einer Kooperation zwischen der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und dem KIT – Karlsruher Institut für Technologie.

Am Samstag, 22.10 findet in Anwesenheit der Künstlerinnen und Designerinnen ein offener (Atom-) Nachmittag mit einer Präsentation und Diskussion in Zusammenarbeit mit der Fotobuchplattform „PUK!“ statt.


BIOS

“Eternal Flame – The Radiating Archive” ist eine Zusammenarbeit zwischen Moritz Appich (Grafikdesigner), Mustafa Emin Büyükcoşkun (Künstler), Cécile Kobel (Grafikdesignerin), Judith Milz (Künstlerin) und Rayna Teneva (Künstlerin), die zur gleichen Zeit an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe studiert haben.

Moritz Appich (1996) und Cécile Kobel (1991) leben und arbeiten beide als Grafikdesignerinnen in Berlin. Moritz ist Teil des Type Design Studios und Labels Gruppo Due, Cécile ist eine Hälfte des Studios KaranKobel, das visuelle Konzepte für Musikerinnen, Biennalen und Künstlerinnen entwickelt und gestaltet. Mustafa Emin Büyükcoşkun’s (1988, lebt in Karlsruhe/Istanbul) Arbeit beschäftigt sich mit der Handlungsfähigkeit und dem Potential von Wahrheits(er)findung in den Medien, besonders im Bereich Sound. Seine aktuelle Praxis verschiebt den Kontext von Stand- und Bewegtbildern, dekonstruiert Meta-Narrative und dekolonisiert historiografische Praktiken. Judith Milz (1989, lebt in Karlsruhe/Marseille) entwickelt in ihrer künstlerischen Arbeit narrative Möglichkeiten in skulpturalen, performativen, fotografischen und publizistischen Kontexten. Oft dienen dabei Archive als Ausgangslage, um dokumentarisches Material mit kontextspezifischen Konzepten und performativen Elementen zu verweben. Rayna Teneva (1986, lebt in Sofia) ist eine Kunstschaffende, die Archive, Found-Media und Ton verwendet, um Erzählungen zu ermöglichen, die über Erinnerung, Identitätsbildung und Zukunftsprognosen spekulieren. Ihre Arbeit ist prozessorientiert und greift häufig auf performative und sozial-integrative Gesten zurück.

“Eternal Flame – The Radiating Archive” ist Teil des Projektes “Untitled (Archive)” das 2017 aus einer Kooperation zwischen dem KIT Archiv (Klaus Nippert, Elke Leinenweber) und der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (Susanne Kriemann, Friederike Schäfer) entstand.

Mehr Infos: https://www.goethe.de/ins/bg/de/ver.cfm?event_id=24213344

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