Und wenn wir nicht gestorben sind,/dann leben wir noch heute.
und wenn wir nicht am Leben sind,/dann sterben wir noch heute
Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind/ Die Mädchen werden Bräute.
Ach, wenn ihr mich gestorben habt,/lebt ihr mich weiter heute.
gemeinsam wird 1 Land begrabt/und einsam sind die Leute.

Diese von Thomas Brasch geschriebenen Zeilen bilden den Anfang von Benjamin Breitkopfs multimedialer Sound-Performance Schachtnovelle, die im September 2022 am Festplatz in Karlsruhe aufgeführt wurde. Während Brasch in seinem Gedicht vor allem seine Zerrissenheit zwischen Ost- und Westdeutschland, Kommunismus und Kapitalismus verhandelt und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz in der Welt aufruft, überträgt Breitkopf dieses auf die heutige Diskrepanz zwischen mediatisierter Darstellung des Weltgeschehens und einer möglichen Teilhabe daran. So ist auch der Dramaturg und Performer Moph Zielke, der dieses Gedicht zitiert, während seines Vortrags damit beschäftigt, mithilfe eines Handys mit einer Drohne zu interagieren, um dieser abstrakte Geräusche zu entlocken. Während das Thema der Schachtnovelle sich so zwar stark von Braschs Lyrik unterscheidet, so bleibt sie dieser doch in ihrer Form treu. Denn das, was an die eben beschriebene Anfangsszene anschließt, folgt – wie auch Braschs Gedichte – keinem Sinnzusammenhang und keiner Handlung, sondern gleicht durch seine assoziative Aneinanderreihung von Szenen vielmehr einem absurden Theater. So wird der Performer, welcher eben noch Brasch zitiert hatte, plötzlich für tot erklärt, woraufhin eine Polizistin in grünem Overall (Heidi Herzig) den Umriss seines Körpers mit Kreide nachzeichnet und er von Trauermarsch-Musik begleitet auf einer Bahre an eine andere Stelle des Platzes transportiert wird. Sobald er abgelegt wurde, treten mehrere Musikerinnen aus dem Publikum hervor und an den titelgebenden Schacht, in welchem sich Lautsprecher befinden. Dort erzeugen sie zunächst durch eine Runde Tischtennis (Frank Bierlein, David Loscher), später durch ein Murmelspiel (Jo Wanneng, Lukas Fütterer) experimentelle Klänge. Diese werden durch mehrere auf dem Schacht liegende Telefone, deren Mikrophone mit den Lautsprechern im Schacht verbunden wurden, verzögert und verstärkt und von der Polizistin mit einem assoziativen Text moderiert, bis eine Trompete (Roland Spieth) quer über den Platz zum Szenenwechsel ruft. Angetrieben von einer großen Surdo-Trommel (Raffael Weißensteiner) greift ein Kollektiv aus Tänzerinnen zu den Lichtröhren, welche eine Lichtfigur (Luise Peschko) zuvor auf dem Platz verteilt hat. Die Tänzer*innen verbinden sich zu einer Menschenkette und stellen so Schnittmenschen dar, die auf die ubiquitäre Krisensituation mit der Suche nach Zusammenhalt reagieren. Als solche bewegen sie sich langsam in die Richtung des Schachts, welcher in der Zwischenzeit mithilfe von Fitnessbändern in einen Bass verwandelt wurde.

Die Performance endet schließlich mit einer Gruppe aus Scooterfahrerinnen, die ähnlich eines Flashmobs auftreten und von der Polizistin und der Musik zu einem Ballett dirigiert werden. Die dabei entstehenden Formationen führen – wie zuvor schon die Anordnungen der Tänzerinnen – über den ganzen Platz und zwingen die Zuschauerinnen dazu, sich ständig zu bewegen, zu neuen Gruppen zusammenzufinden und ihre Perspektive auf das Geschehen zu verändern. Obwohl dadurch nicht alle Zuschauerinnen alle Handlungen gleichermaßen sehen können, bietet eine große Leinwand über dem Schacht, auf welcher die Aufnahmen der Performance live übertragen werden, ihnen dennoch die Möglichkeit, die Performance, – ganz dem Thema entsprechend – zumindest medial vermittelt als Ganzes zu erleben.

Der Filmemacher und Medienkünstler Benjamin Breitkopf, geboren 1986 in Donaueschingen (D), lebt in Karlsruhe und arbeitet überall. Nach seiner Ausbildung beim SWR in Baden-Baden studierte er Medienkunst an der Hochschule für Gestaltung und war bereits während seines Studiums als Dozent tätig. Er dokumentiert weltweit Alltagsszenen und gesellschaftliche Phänomene, die er als raumgreifende Installationen, Projektionen im Stadtbild und Fotografien ausstellt. Diese wurden u.a. bereits in Panama-Stadt, Mexiko-Stadt und Tokyo gezeigt. 2017 gewann er gemeinsam mit dem Künstler Trond Ansten den von Canon verliehenen New Cosmos of Photography Award.