The next day after you died (AT) ist ein fortlaufendes fotografisches Dokumentationsprojekt Iden Sungyoung Kims über ihre schwerbehinderte Schwester und ihre Familie, die sich seit ihrer Geburt um diese kümmert. Obwohl ihrer Schwester eine eingeschränkte Lebenserwartung von unter zwanzig Jahren prognostiziert wurde, lebt sie nun im Alter von 42 Jahren bei ihren Eltern. Als sie vierzig Jahre und damit doppelt so alt wie ihre prognostizierte Lebenserwartung wurde, begann Kim ihren Alltag, ihren Körper und ihre Alltagsgegenstände fotografisch zu dokumentieren und so eigene, sehr private Momente ihrer Schwester nachzuzeichnen.

In Südkorea, der Heimat der Künstlerin und ihrer Schwester, werden Menschen mit Behinderung als die Unsichtbaren betrachtet. Um die ständige technische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes aufrecht zu erhalten, besitzt die südkoreanische Gesellschaft ein strenges Schema der Normalität, welches dazu dient, dass Menschen ihren sozialen und wirtschaftlichen Verantwortungen nachkommen. Indem Kim ihre Schwester und deren Leben sichtbar macht, hinterlässt sie sichtbare Spuren in der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit und hält die Existenz ihrer Schwester auf der Erde als eine alte Zukunft fest. Gedruckt auf Barytpapier, das aufgrund seiner konservierenden Eigenschaften das haltbarste unter den Fotopapieren ist, stellen die zeichnerischen Fotografien die analoge Strategie der Künstlerin dar, den Alltag ihrer Schwester zu archivieren und so gegen das persönliche und gesellschaftliche Vergessen anzukämpfen. Sie knüpfen vergangene Momente an die alte Zukunft und erkunden so den dritten Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Während es auf den ersten Blick so scheint, als handle es sich bei den Fotografien um eingefrorene Momente, begreift Kim sie als zeitbasiertes Medium, das vom Aufgenommenen zum Gezeigten fließt und zwischen Fotograf:in und Betrachter:in steht. Das fotografische Momentum markiert die Fußnoten mit seinem Rahmen für verborgene und unausgesprochene Geschichten von Menschen, Gesellschaft und Politik im kulturellen Gedächtnis. Im Vergleich zum digitalen Kollektiv der fotografischen Medien versucht der analoge Ansatz methodisch, die eigene Vision und Erzählung einzufangen, indem er die einzige künstlerische Sprache der spezifischen Person aufbaut. Die zeichnende Fotografie ist daher eine der persönlichsten Methoden, nicht nur wegen ihres Prozesses, sondern auch wegen ihrer Erzählung aus dem vergangenen Moment.

Die interdisziplinär arbeitende Künstlerin Iden Sungyoung Kim absolvierte zunächst ihren Bachelor in Malerei und Kunstvermittlung in Seoul und studierte daraufhin Medienkunst an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. In ihrer künstlerischen Praxis verhandelt sie gesellschaftliche Probleme, die – wie beispielsweise soziale Ungleichheiten und das Anthropozän – auf politischer Ebene zwar sehr präsent, im Alltag jedoch weitgehend unsichtbar sind. Die aus umfangreichen Recherchen zu diesen Themen hervorgehenden Filme und Fotografien präsentiert Kim meist inmitten raumgreifender Installationen. Diese wurden bereits in internationalen Ausstellungen, u.a. im Korean Cultural Centre in London, dem Kulturforum Schleswig-Holstein-Haus und im Rahmen der Architekturbiennale in Venedig gezeigt. Neben ihrer künstlerischen Praxis arbeitet Kim als Kunstvermittlerin und Übersetzerin.