Nachdem im Jahr 2019 zahlreiche Kunstobjekte und Schmuckstücke aus dem Grünen Gewölbe des Dresdner Residenzschlosses entwendet worden waren, berichtete die ganze Welt davon. Die Berichte beinhalteten dabei jedoch schon sehr bald nicht mehr nur Beschreibungen des spektakulären Falls an sich, sondern auch Projektionen und Vorurteile gegenüber der Stadt Dresden und ihrer Bewohner*innen. Diese bildeten für Manuel Sékou, der in Dresden aufgewachsen, für sein Studium jedoch nach Karlsruhe gezogen ist, den Anlass, seinen Blick aus der Distanz wieder auf seine Heimat zu richten und sich mit der deutsch-deutschen Dynamik auseinanderzusetzen. So begab er sich – parallel zu den Ermittlungen der Soko Epaulette – auf die Suche nach den Schätzen der Erinnerung, sicherte deren Spuren in der Gegenwart und untersuchte die in diesen verborgenen Symptome der Vergangenheit, um so den X-Faktor Dresdens, der sich jenseits des medial vermittelten Bildes der Stadt verbirgt, zu entschlüsseln.

Entstanden ist daraus die meso-biographische Recherche-Serie I LOST MY GEMS, welche mit dem 2021 produzierten Hörstück [ILMG001] ihren Anfang nahm und nun mit der Arbeit [ILMG002] „Stand der Ermittlungen“ (Rauschgyft, Mythoz, Style) fortgesetzt wurde. Im Mittelpunkt Letzterer steht eine Publikation, welche sich in Form einer essayistischen Verknüpfung von Bild und Text auf 248 Seiten dem Mythos Dresdens nähert und dabei so vielfältige Themen wie den Ost-West- Konflikt, die Jugendszene und deren Klassenunterschiede, Sprachbesonderheiten und Clubkultur sowie die der Stadt eigene Mischung aus barocker Schönheit und konservativen Stimmen behandelt. Während die Annäherung an diese Themen zwar maßgeblich durch die persönlichen Erfahrungen Sékous motiviert ist, verfolgt er mit seiner Publikation jedoch das Ziel, einen Einblick in den Erfahrungshaushalt der gesamten Generation, die im Dresden der 2010er Jahre zwischen Popkultur und politischen Zerwürfnissen aufgewachsen ist, zu geben. Um dies zu ermöglichen, hat er eine Vielzahl von Stimmen, Perspektiven, Emotionen und Anekdoten in das Buch integriert, die er in verschiedensten Gesprächen aufgenommen und anschließend transkribiert hat. Indem die daraus entstandenen Texte fragmentiert, neu arrangiert und mit ca. 630 Bildern aus dem Archiv des Künstlers kombiniert wurden, lässt I LOST MY GEMS [ILMG002] „Stand der Ermittlungen“ eine kollektive Polyphonie der Erinnerung und Ambivalenzen entstehen. Aufgrund der dialogischen Unschärfe des Materials und der brüchigen Muster ihrer Anordnung vermittelt die Publikation dabei jedoch kein einheitliches Bild der Erinnerung, sondern bietet vielmehr mehrdimensionale Konstellationen und Beobachtungen an, die von den Leser*innen selbst entschlüsselt werden müssen. Dies wird jedoch durch die visuelle Sprache erschwert, die sich durch Kommentare und Verweise permanent selbst infrage stellt, die Grenze zwischen Projektion und Realität ständig dekonstruiert und so den Zweifel zum grundlegenden Ton des Buches macht. Die dadurch immer wieder aufkommende Frage, ob es sich bei den einzelnen Spuren um Trash oder Treasure handelt, kann in dieser Hinsicht als Leitmotiv der unklaren Beweisführung betrachtet werden. Dieses Motiv findet sich auch in der Videocollage, die der Publikation als DVD beigefügt und als zusätzliches Kapitel des Buches angelegt ist. An das Thema und die Form der Publikation anknüpfend verdichtet das Video bearbeitete und gesampelte Found-Footage-Fragmente zur Musikund Clubkultur Dresdens sowie zu sächsischem Dialekt und Aggression. Dabei tauchen immer wieder Versatzstücke aus einem Video mit dem Titel Sondeln mit Metalldetektor auf, welche – ganz dem Leitmotiv der gesamten Arbeit entsprechend – eine Suche ohne klares Ziel zeigen, bei welcher Relikte wie DDR-Münzen und Patronenhülsen aus dem Zweiten Weltkrieg, aber auch einfach nur Müll zutage gefördert werden.

Manuel Sékou wurde 1991 in Dresden geboren und studierte Medienkunst an der HfG Karlsruhe. In seiner künstlerischen Praxis agiert er als Sammler, Betrachter und Prosumer, der mithilfe visueller und auditiver Bilder mit der Welt in Kontakt tritt und so versucht, sie zu erkennen und zu verstehen. Die daraus hervorgehenden künstlerischen Arbeiten kombinieren Text, Bild und Audio zu assoziativen Strömen, wobei den Stilmitteln der Dekontextualisierung, Verfremdung und Kontrastierung hierbei eine zentrale Rolle zukommt.