Gezeiten sind dem Zyklus von Sonne, Erde und Mond unterworfen. Sie sind die Bewegung der Wassermassen des Ozeans, die an den Küsten als periodisches Ansteigen und Absinken des Meeresspiegels in Erscheinung treten. Das Sichtbarmachen und Verbergen der Wellen erfassen das gesamte Dasein. Der Himmelskörper Erde besteht ebenso wie unsere organischen Körper größtenteils aus Wasser. Sie sind fluide, miteinander verbunden und voneinander abhängig. Gezeiten als Daseinsmetapher umreißen das fortlaufende Ausbalancieren von Kommen und Gehen, Anziehen und Abstoßen, Sich zeigen und entziehen.
"From dead-calm seas to angry tsunamis, the tide never returns to the same spot twice, and its movement is affected by several forces that themselves continually change: currents rising from the deep sea, the moon, the wind, and ecological situations that complicate plain dialectic view. Tidalectics thus assumes the shape of an unresolved cycle rather than a forward-directed argument of progression." (Tidalectics, Imagining an Oceanic Worldview Through Art and Science, Stefanie Hessler, 2018)
Die zwölf Stunden andauernde Ausstellung von Christina Scheib verstand sich als eine Einladung für den Einstieg in eine flüssigere Umwelt. Wie ein Strand oder Surfspot, der sich mit den Gezeiten immerfort verändert, war auch die Ausstellung permanent anders wahrnehmbar. Dem Rhythmus der Gezeiten an der nordspanischen Atlantikküste folgend, veränderte sich das Ausstellungsprogramm je nach Wasserstand über fünf Tage hinweg. Während die Gezeiten die Ausstellung in ständiger Dynamik zwischen Offenlegen und Verbergen hielten, ermöglichte das Surfen als „idea of controlled slippage” (s. Sharks Death Surfers. An Illustrated Companion, Melissa McCarthy, 2019) die spielerische Navigation in ihr.
Der Metapher der Gezeiten folgend entfaltete sich die Ausstellung entlang Sound- und Videoarbeiten sowie Publikationen, die in ihren Ursprüngen auf unterschiedliche archivarische Plattformen und ihnen zugrundeliegende Hierarchien verwiesen. Von der Klimakrise in ihrer ökologischen und aktivistischen Dimension zur Darstellung der Brutalität (s. u.a. Agniezska Polska, Linda Stupart, Rachel Carson) und der zerstörerischen Kraft unserer kolonialkapitalistischen Vergangenheit und Gegenwart wurden Verbindungen aufgezeichnet hin zu monsterhaften Repräsentationen von Naturkatastrophen (s. u.a. Grace Jones, Melissa McCarthy, Tabita Rezaire). Derweil schreibt sich der Rhythmus der Gezeiten endlos fort (s. u.a. Chantal Dumas, Jan Dibbets, Virginia Woolf). Das Potential der Auflösung des Selbst in ein Wir eröffnet sich und verweist auf die Anerkennung von Wasser als eigenes Subjekt und Raum (s. u.a. Chus Martínez, Radna Rumping, Susanne M. Winterling).
Dank an: Alexander Knoppik, Andreas Müller, Andrej Mircev, Anja Dorn, Anja Ruschival, Christoph Funk, Corinna Scheib, Francesca R. Audretsch, Hanna Franke, Hanne König, Hans D. Christ, Hendrik Stoerk, Hubert Distel, Iden Sungyoung Kim, Ivo Scheib, Jaya Demmer, Jonas Piroth, Josefine Scheu, Judith Milz, Karl-Heinz Scheib, Laurine Haller, Leia Walz, Leonie Ohlow, Lisa Bergmann, Lizzy Ellbrück, Lydia Kähny, Maria Harder-Scheib, Patrick Alan Banfield, Paulina Mimberg, Petra Zimmermann, Sascha Jungbauer, Sebastian Schäfer, Susanne Kriemann, Thomas Rustemeyer, Tobias Keilbach und Viktor Neumann.
Betreuung: Prof. Anja Dorn, Prof. Andreas Müller