Die Saatkrähe (engl. rook) ist eine der vier Arten der Gattung corvus aus der Familie der Rabenvögel. Die große Krähe mit markantem Schnabel und metallisch glänzendem, schwarzem Gefieder ist von Westeuropa bis Nordrussland verbreitet und kommt als überwinternder Zugvogel in großer Zahl in europäischen Großstädten vor. Das Englische verwendet als kollektive Bezeichnung für Gruppen von Saatkrähen die Begriffe building, parliament, clamour oder storytelling.
Auf die Frage, worum es in ihrer Installation building, parliament, clamour, storytelling ginge, antwortet Johanna Schäfer selbst meist, dass sie von Krähen handele. Das trifft nicht vollständig zu, hat aber den Vorteil von Einfachheit. Die Arbeit handelt von Krähen, von deren Präsenz in städtischen Architekturen, von Bezeichnungen und den menschlichen Assoziationen, die diese dem Vogel unterstellen. Diese dienen Schäfer als Ausgangspunkt für ein sprachliches Abtasten eigener Bewegungsmuster, Zugehörigkeiten und Orientierungssysteme. So geht es in building, parliament, clamour, storytelling auch um Positionierungen, um Zeit und Ort, darum, Orte zu bewohnen, zu besetzen, für sich zu beanspruchen; es geht um Bewegungen zwischen Orten, um Hybridzustände, um Beobachtungs- und Messverfahren und deren blinde Flecken; es geht um die Unmöglichkeit klarer Antworten auf komplexe Umstände.
Das ausgehend von Schäfers Beschäftigung mit Krähen und deren Bezeichnungen entstandene Audioskript versammelt Auszüge aus einem fortlaufenden Gedankenprozess, der im Laufe eines Jahres zwischen ihren unterschiedlichen Stand-, Arbeits- und Wohnorten in Wien, Karlsruhe und London entstand. In Form von Briefen an die Krähe zieht der Text Parallelen und ausladende Assoziationsbögen: Im Herbst kehren Krähenschwärme nach Karlsruhe zurück und erinnern an Fragen nach den Grenzen der eigenen Objektpermanenz sowie nach dem Wahrnehmen von und dem Erinnern an Phänomene, die temporär nicht präsent und sichtbar sind. Ein Paternoster im Rathaus von Wien befördert Personen in ununterbrochen kreisenden Bewegungen um zwei Wendepunkte. Rotierend weitet sich die Perspektive von Vogel- zu Planeten- und Satellitenbahnen, auf denen technische Beobachtungsapparate die Erde aus der Vogelperspektive betrachten und – ähnlich antiker Riten der Vogelschau – Daten zur Vorhersage von Wetter, Klima und Zukunft übermitteln. Beim Pendeln zwischen Städten zeichnet Schäfer auf Dächern stehend Bilder aus den Übertragungen überfliegender Wettersatelliten auf – um sich selbst zu verorten. Aus einer Höhe von 850 Metern observieren und übertragen die US-amerikanischen Satelliten NOAA-15, NOAA-18 und NOAA-19 mittels APT-Signalen (Automated Image Transmission) analoge Bilder. Obwohl die Satelliten inzwischen wissenschaftlich überholt sind, werden sie automatisch weiter senden, bis ihre Technik eines Tages versagt. Die zeitliche Dimension dieser kontinuierlichen Verfügbarkeit bei gleichzeitiger Redundanz eröffnet Schäfer Assoziationen zur Geschichte von Observierungs- und Informationstechnologien. Eine Krähe lässt eine Nuss fallen in der Hoffnung, dass sie bricht, und gibt Anlass, Schwerkraft, Abdrücke im Boden sowie soziale und bürokratische Konzepte von Nationalität, Besitznahme und Zugehörigkeit zusammen zu denken.
Die einzelnen Kapitel der Erzählung verbinden sich durch linguistische Bezüge, sprachliche Bilder und Einschübe aus Lexika und Expert*innengesprächen. Als 4-Kanal-Audio- und Videoinstallation sind die vier Episoden über die begehbare Raumarchitektur aus unterschiedlichen Distanzen erfahrbar. Video und Ambientsounds hinterlegen den gesprochenen Text mit Auszügen aus alltäglichen Umgebungen. Sie dokumentieren den Prozess der suchenden Bewegung durch den Stadtraum und kombinieren extreme Perspektiven des Hinauf- und Hinabblickens mit performativen Sequenzen, in denen Schäfer selbst als forschende und verbindende Akteurin in Erscheinung tritt.
In ihrer Arbeit als Grafikdesignerin unternimmt Johanna Schäfer oft Exkursionen in andere Felder und Professionen: Sie schreibt, liest, übersetzt, führt Interviews, vermisst, codiert und decodiert – und kombiniert dabei subjektive und technologische Strategien des Erzählens, Dokumentierens und der Wissensproduktion. Ihre Arbeiten ziehen sprachliche und visuelle Parallelen und spannen assoziative Bögen. Schäfers Praxis basiert stark auf langfristigen und temporären Kollaborationen: Sie ist Mitbegründerin des Verlags Accidental Interest Books und Teil des Kollektivs und der Ausstellungsplattform A Place in the Woods. Seit Dezember 2022 arbeitet sie zudem als künstlerische Mitarbeiterin in der Klasse für Grafikdesign an der Kunsthochschule Kassel.