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Cover (© Anna Schanowski)

Im Mai 1980 veröffentlichte die Kunstkritikerin Ann-Sargent Wooster in Art in America ihren Essay Sol LeWitt’s Expanding Grid. Darin schreibt sie über LeWitts Filminstallation für das Stück Dance (1979) und deren innovativen Charakter im Kontrast zu den vorangegangenen Arbeiten des US-amerikanischen Konzeptkünstlers. Ein wesentlicher Bestandteil der Bühnenbildprojektion stellt die darin integrierte Rasterstruktur dar, auf der sich die Tänzer*innen bewegen:

The presence of the grid substantially changed the appearance and the meaning of Childs’s dances […], their mathematical foundation became immediately evident. The combination of dancers and grid had exactly the opposite effect for LeWitt’s work: the figures served to humanize it.

Das Raster, welches nicht nur ein charakteristisches Werkzeug in LeWitts Oeuvre darstellt, sondern auch als emblematische Grundstruktur der Moderne gilt, erfährt hier eine ungewöhnliche Sinnsuggestion: Die Rezeption verschiebt sich durch seine Funktion als „Tanzfläche“ weg von der ursprünglichen Assoziation des Abstrakten hin zu einer potentiellen Subjektivität und Narrativität. Wooster überträgt schließlich die Dekonstruktion der intendierten Lesart des Rasters in Dance auch auf LeWitts Künstlerbücher: „In both his dance film and in his recent books of photographs, LeWitt has invented a way to sidestep the trap that the grid represents.“ Ihrer Annahme nach scheint das Medium des Künstlerbuches, ähnlich wie seine filmische Arbeit, eine Spannung zu potenzieren, die die scheinbare Stringenz konzeptkünstlerischer Strategien in ein neues Licht rückt. So eröffnet Woosters Essay eine signifikante Perspektive auf die tradierte Auslegung des Rasters, welche auch für die Fragestellung der Magisterarbeit Anna Schanowskis von großer Relevanz ist.

Zusammen mit Lucy Lippard gründete Sol LeWitt 1976 den Non-Profit-Verlag Printed Matter, der bis heute als programmatische Distributionsplattform und alternativer Raum für Kunstschaffende agiert. Abgesehen von der distributiven Beschäftigung mit Künstlerbüchern stellen diese ein essenzielles Ausdrucksmittel seiner künstlerischen Praxis dar. Neben den medienspezifischen Eigenschaften, wie Zugänglichkeit, Erschwinglichkeit oder Unabhängigkeit von Ort und Zeit, vermitteln seine Publikationen insbesondere das Potential einer Veränderung unserer Wahrnehmungsweise. Sie stehen somit repräsentativ für eine konzeptionelle Auseinandersetzung mit Buchkunstwerken, welche die Inhalte und Formensprache des derzeitigen Kunstkontexts widerspiegeln.
Inspiriert von den Bewegungsstudien des Fotografen Eadweard Muybridge, formuliert LeWitt in seinen Büchern serielle Ordnungssysteme, in denen das Raster ein zu Grunde liegendes, strukturierendes Prinzip darstellt. In Bezug auf die Leitgedanken der Minimal und Conceptual Art wird deutlich, dass es sich dabei nicht einfach um eine formalästhetische Mustervorlage handelt, sondern darin insbesondere der symptomatische Diskurs über die Rolle von Autorschaft und Leserschaft impliziert und thematisiert wird. So propagierten die seriell arbeitenden KünstlerInnen unter anderem eine Auflösung institutionalisierter Hierarchien und der Idealisierung eines selbstzentrierten Künstler-Subjekts. Insbesondere die Rasterstruktur, die faktisch eine Serie von Quadraten darstellt, fungiert hier als Werkzeug zur Unterbindung von Expressivität und Narrativität.
Betrachtet man jedoch die Entwicklung seiner artists‘ books, so stellt sich vermehrt die Frage, mit welcher Konsequenz die Ideale von Desubjektivierung und Non-Narration darin verfolgt werden und wie sich wiederum die Struktur des Buches dazu verhält. Zwar finden sich vereinzelt literarische Referenzen, die die Funktion des Rasters bei Sol LeWitt aus einem neuen Blickwinkel thematisieren, dennoch ist in der retrospektiven Auseinandersetzung mit LeWitts Künstlerbüchern eine affirmative, verallgemeinernde Rezeption seiner Arbeiten vorherrschend. Der Doppelcharakter konzeptkünstlerischer Objektivierungsstrategien und Distributionslogiken wird dabei vorwiegend ausgeblendet. In Anlehnung an Woosters Beobachtungen in Sol LeWitt’s Expanding Grid unterzieht Anna Schanowski daher anhand ausgewählter Publikationen die tradierte Funktion des Rasters einer kritischen Analyse: Stehen seine systemischen Arbeiten prinzipiell im Widerspruch zu Subjektivität und Autorschaft? Dient die Form des Rasters ausschließlich als gestalterische Strategie zur Abstraktion oder ermöglicht diese ebenfalls eine narrative Rezeption?

Betreuung: Prof. Dr. Johan Hartle, Prof. Dr. Matthias Bruhn