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Alessandro Gocht untersucht in seiner Magisterarbeit am Beispiel der Modenschau VOSS (2001) von Lee Alexander McQueen zeitgenössische Modestrukturen. Seit den 1990er Jahren stehen Modenschauen im Kontext des „performative turn“, d.h. sie werden als theatrale Ereignisse betrachtet, die in ihrer inszenierten Einmaligkeit viel mehr sind als reine Formen des Zeigens und Präsentierens.

Für die Frühjahr/Sommer-Kollektion VOSS, die am 26. September 2000 in London gezeigt wurde, ließ McQueen einen kastenartigen Laufsteg bauen, dessen Wände aus verspiegeltem Glas bestanden. Dadurch erreichte er eine Art Selbstkonfrontation der Zuschauer, die gezwungen waren, sich mit ihrem eigenen Spiegelbild auseinanderzusetzen. Erst nach einer Stunde ging das Licht im Saal aus und der Würfel begann von innen heraus zu leuchten. In diesem Moment wechselte die Verspiegelung an die Innenseiten des Glaskastens und gab das Innenraum-Setting zu erkennen: Eine Art White Cube, der einer psychiatrischen Anstalt ähnelte – mit weißen Fliesen auf dem Boden und weiß gepolsterten Wänden. In der Mitte stand ein weiterer Kubus; viel kleiner im Volumen und nicht einsichtig. Auf diesem Schauplatz des Zeigens wurden in 15 Minuten 76 Modelle präsentiert. Die Prinzipien einer klassischen Laufstegpräsentation wurden dabei verneint. Vielmehr erwartete den Zuschauer ein Durcheinander aus Körpern und Kleidern.

Der Narzissmus der Models wurde bei VOSS vor den Spiegelwänden zur Schau getragen. Es entwickelte sich eine ambivalente Blickführung, denn einerseits blickten die jungen Frauen auf ihr Spiegelbild, andererseits durch selbiges hindurch. Sie wussten um die Blicke der Anderen (um die Existenz einer zuschauenden Menge) und verhielten sich in der Art einer optischen Korrespondenz dem Zuschauenden gegenüber, der bei McQueen zum Voyeur wurde. Auf diese Weise verschwand die vierte Wand, die als imaginärer Bestandteil den nicht artifiziellen Raum vom artifiziellen trennt und dafür sorgt, dass jeder in seiner eigenen Welt verbleibt. Sobald eine Interaktion stattfindet, nimmt der Austausch zwischen AkteurInnen und ZuschauerInnen performative Züge an, denn das, was der Performance zu eigen ist – das Auflösen der Trennung zwischen Produktion und Rezeption – wird sichtbar.

In VOSS war der Mannequin-Körper mehr als ein durch Kleidung geformter Körper, mehr als ein bloßer Träger. Dies rührte daher, dass es den Models erlaubt war, schauspielerisch zu agieren, wodurch sie einer sich zurücknehmenden Präsentation entgegenwirkten. Mimik und Gestik traten in den Vordergrund wie auch die Tatsache, dass kein Walk dem anderen glich. In diesem Zusammenhang kann von einer Leistung der Subjekte gesprochen werden. Allerdings haben wir es weiterhin mit Mode-Körpern zu tun, d.h. die Kleidung steht im Mittelpunkt und nicht ihre Trägerinnen. Diese Fokussierung verlangt eine partielle Entindividualisierung, die über eine Vereinheitlichung erfolgt. Das tragende Symbol hierfür ist im Gebende zu sehen: Es bandagierte die Köpfe der Models, rahmt ihre Gesichter und verbarg das Eigenhaar.

Nach dem Ende der Modenschau wurde es dunkel im äußeren Kubus. Plötzlich leuchtete ein Licht zuckend auf, das auf die Präsenz des inneren Kubus verwies. Dann wurde das Licht im äußeren Kubus wieder aktiviert und die sechs Glaswände des inneren Kubus entriegelt. Sie fielen zu Boden und zerbarsten. Diese Aktion markierte den Höhepunkt der Zerstörung in VOSS (bereits zuvor zerstörten Models ihre Kleider) und visualisierte die anwesende Abwesenheit des vorerst Nicht-Sichtbaren: eine entblößte Frau; ihr Kopf maskiert und über ihren Mund an Schläuche angeschlossen. Regungslos lag die Unbekannte da und präsentierte dabei ihren Körper; einen Körper, der weit mehr Volumen aufwies, als die der Models. „Im (nicht vorhandenen) Miteinander von Körper und Kleid“ markiert dieser Schlussteil laut Gertrud Lehnert den Nicht-Mode-Körper. Es gibt aufgrund der Nacktheit keinen Dialogpartner. Im Sinne von Roland Barthes kann demzufolge bei der Liegenden nicht die Rede von einem Mannequin sein. „Als nacktes, üppiges und regloses Fleisch steht dieser Körper in pointiertem Gegensatz zum asketisch ekstatischen, sich immer bewegenden Model – einer Kleiderstange, deren einzige Aufgabe darin liegt, (...) fleischlos Kleider zu tragen.“ (Barbara Vinken, Angezogen – Das Geheimnis der Mode, 2013)

Betreuung: Prof. Dr. Matthias Bruhn, PD Daniel Hornuff