Nahezu alle Lebensbereiche des Menschen sind derzeit von Auswirkungen der digitalen Revolution betroffen. Prinzipien der digitalen Medien, wie Virtualität, Omnipräsenz, Beschleunigung, Beliebigkeit, Simultanität, Immaterialität und Transformation, verändern dabei nicht nur äußere Lebensbedingungen; durch das veränderte Zeit- und Raumerleben entwickelt sich auch eine neue Interpretation von Wirklichkeit. Bereits vor mehr als zwanzig Jahren beobachtete der Philosoph Wolfgang Welsch eine zu den Effekten des digitalen Wandels wenig beachtete Gegentendenz, die sich in einer neuen Faszination für nicht-digitale Erfahrungen äußere und mit einer Neubewertung klassischer Wirklichkeitswahrnehmung einhergehe. Merkmale dieser Erfahrungen seien bspw. Unmittelbarkeit, Unwiederholbarkeit, Singularität, Beständigkeit, Individualität und Körperlichkeit, die in einer Entwicklung zum Ausdruck komme, die sich komplementär und gegenpolig zur vorherrschenden Digitalisierungstendenz erklärt. Sie reagiert auf unerfüllte sinnliche bzw. psychosomatische Bedürfnisse einer durch die Allgegenwärtigkeit digitaler Medien als einseitig empfundenen Erfahrungswelt, die besser mit nicht-digitalen Medien zu befriedigen seien, die stärker mit Körper und Material verbunden sind. In diesem Kontext kann auch eine von Seiten der Anthropologie für die gegenwärtige Gesellschaft proklamierte Authentizitätssehnsucht geltend gemacht werden, die ebenfalls im digital bedingten Mangel an unmittelbaren, einzigartigen und nachhaltigen Erfahrungen begründet wird. Welsch plädiert deshalb in Bezug auf eine verbesserte Bedürfnisbefriedigung für eine gleichzeitige Parallelität und widerspruchsfreie Verbindung beider – digitaler und klassischer Wirklichkeitserfahrungen – die z.B. Ausdruck in einem vom Benutzer aus gedachten Design finden könnte.
Die Magisterarbeit von Lydia Schubert knüpft an diesen Bezugsrahmen an, in dem sie der aktuellen, materialorientierten, Sinnlichkeit betonenden und besonders human erscheinenden Architekturströmung einen Platz in der oben beschriebenen Gegentendenz zuteilt und sie als Gegenpol zu digitalen Tendenzen positioniert. Ziel der Arbeit ist, diese These zu überprüfen, indem spezifische Ausformungen und Wirkungsweisen des Gegentrends herausgearbeitet werden. Außerdem soll abschließend geklärt werden, ob den Gebäuden ein Potential innewohnt, Qualitäten beider Tendenzen miteinander zu verbinden. Kreist der in den 1990er Jahren parallel zum Einsetzen der digitalen Revolution aufkommende Digitalisierungshype um biomorph anmutende Freiform-Architekturen und Materialinnovationen, so rückt eine Materialität und Sinnlichkeit betonende Architektenschaft um Büros wie bspw. Herzog & de Meuron, David Chipperfield Architects oder Lederer+Ragnarsdóttir+Oei seit einigen Jahren vermehrt den Einsatz sogenannter natürlicher Materialien in den Mittelpunkt.
Die Begeisterung für Natürliches, Echtes und Handwerkliches geht mit der zunehmenden Verwendung von konventionellen Baustoffen wie Holz, Naturstein, Sichtbeton und Ziegel einher, verweist aber auch auf eine grundsätzliche Neubewertung von Material und Oberfläche in der Architektur, die sich grundsätzlich im material turn der Geistes- und Kulturwissenschaften verorten lässt. Galt lange Zeit hauptsächlich der Form, der Struktur oder dem Raum die größte Aufmerksamkeit in der Architektur, werden vermehrt Wechselwirkungen zwischen Material, Struktur und Umwelt betont und die Materialfrage eng an das Gesamtkonzept gekoppelt. Auch deshalb findet innerhalb dieser Magisterarbeit die Annäherung an die aktuelle, gegenpolige Architekturströmung über eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Material statt und macht es zum Ausgangspunkt jeglicher Überlegungen.
Innerhalb der Faszination für natürliche Materialien fällt der besonders häufige Einsatz von Ziegel für die Fassadengestaltung auf, weshalb in dieser Arbeit die Gegentendenz exemplarisch an diesem Material erörtert und analysiert wird. Innerhalb der langen, von einigen Beliebtheitsschwankungen gesäumten Erfolgsgeschichte des Ziegels, lässt sich, nach Jahren der Flaute, seit einiger Zeit wieder eine besondere Popularität verzeichnen; man könnte soweit gehen, von einem Ziegel-Trend bzw. -Revival in der Architektur zu sprechen. Dennoch steht eine über einzelne Bauwerke hinausgehende, architekturwissenschaftliche Besprechung dieses Phänomens noch aus, wozu diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte. Um darin gemeinsame Gestaltungsmerkmale, Bedeutungszugschreibungen und konzeptuelle Verankerungen gegenwärtiger Ziegelarchitektur aufzuzeigen, werden – nach einer umfassenden, vergleichenden Sichtung verschiedener Bild- und Textmaterialien – vier Hauptmerkmale bestimmt, anhand derer das Wesen des Trends zum Ausdruck gebracht wird und die als Ordnungssystem die Basis für Beschreibung und Analyse in dieser Arbeit schaffen.
Betreuung: Prof. Dr. Matthias Bruhn (HfG Karlsruhe), Prof. Dr. Riklef Rambow (KIT – Fakultät für Architektur)